Beitrag aus der IG-MilchPost Sonderausgabe

Auszug aus dem Zeitzeugenbericht, Kapitel 7:

DIE REGION ALS HANDLUNGSRAUM UND POTENZIALENTFALTUNG

Aus der bisherigen Geschichte lernen

Bei den Gesprächen und Analysen innerhalb der „IG-Milch“, in der ich seit vier Jahren mitarbeite, sind wir zum Schluss gekommen, dass die Bauern in den letzten fünfzig Jahren viele Bereiche der Wertschöpfung verloren haben. Also geht es in unserem Programm künftig darum, Teile der Wertschöpfung wieder in die Regionen zurückbringen. Wir packen das Thema an. Wir haben uns deshalb bereits im Oktober 2018 das erste Mal mit Christian Hiß, dem Spezialisten aus Freiburg im Breisgau (Baden-Württemberg), gekoppelt. Er hat große Erfahrung speziell im Bereich „regionaler Wertschöpfung“, der Entwicklung von Wertschöpfungsketten von der Produktion bis zum Essen auf dem Teller am Tisch. Er verwirklicht dies in Projekten der „Regionalwert AG“. Hiß denkt das Verhältnis vom Rohprodukt bis zum fertigen Lebensmittel beim Kunden neu zu Ende. Eine Besonderheit ist seine Miteinrechnung der Kosten ökologischer Umweltsanierung – zum Beispiel der Bodensanierung – in die Betriebskosten landwirtschaftlicher Betriebe.

Christian Hiß veröffentlichte im Jahr 2017 mit Andrea Heistinger aus St. Pölten und Thomas Frieder vom „AgrarBündnis“ in Konstanz (Bodensee) die Studie: „Von der bäuerlichen Landwirtschaft zur regionalen Versorgungswirtschaft“. Darin geht es, wie der Titel besagt, um regionales Wirtschaften. Besonderes Augenmerk liegt in dieser Studie darauf, dass Merkmale und Eigenschaften früherer regionaler Versorgung erkannt und erforscht werden, um diese in moderner, aktueller Form in die neue Regionalentwicklung zu integrieren. Diese Herangehensweise geht davon aus, dass man nicht alles einfach machen kann. Denn lebendige Prozesse kann man nicht machen, man kann sie nur entdecken und fördern. Anders gesagt: Man baut hier auf bewährten regionalen Strukturen auf. Man muss ja das Rad nicht immer wieder neu erfinden. Bei unserem Symposium am 20. Oktober 2019 wird die genannte Studie von zwei der Autoren, von Hiß und von Heistinger, vorgestellt werden. Dabei wird das Verhältnis angemessener Werkzeuge und Strukturen aus der Zeit vor der arbeitsteiligen Industrialisierung, in der die regionale Versorgung funktionierte, auf heutige Übertragungs-möglichkeiten hin neu gedacht. Diese Werkzeuge werden „funktionelle Eigenschaften“ genannt.

Richtig rechnen

Ein anderes der Bücher von Christian Hiß heißt: „Richtig rechnen! Durch die Reform der Finanzbuchhaltung zur ökologisch-ökonomischen Wende“ (Oekom Verlag 2015, ISBN 978-3-86581-749-5). In diesem Buch geht Hiß, der gelernter Gärtnermeister ist und dessen Vater bereits einen Demeter-Biobetrieb führte, mit seinem zusätzlichen Studium der ökologischen Ökonomie in eine sehr fundierte Betrachtung der ökologischen Diskussion. Hier ein Auszug daraus über „echte Ökonomie“:

„Als Gärtner arbeite ich mit den Gesetzen des Aufbaus und des Abbaus der natürlichen Fruchtbarkeiten und bin deshalb mit der ursprünglichsten aller Ökonomien vertraut, dem Haushalten mit den natürlichen Ressourcen und den Gesetzen ihrer Regeneration. Ich kenne ihre Belastbarkeit und arbeite am erfolgreichsten innerhalb der Grenzen, die sie auszuhalten in der Lage sind. In den vergangenen Jahrzehnten hat aber ein Ökonomieverständnis die Oberhand gewonnen, das diese Gesetzmäßigkeiten und Grenzen missachtet. Man geht mit den natürlichen und sozialen Ressourcen um, als wäre ihre unendliche Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit gegeben. Dieses falsche Wirtschaften wird abgeleitet aus dem konstruierten und abstrakten Rechenschema, das zwar jedes Unternehmen anwendet, das aber trotzdem nicht richtig ist. Es verengt den Blick auf eine unvollständige Abstraktion und macht blind für die ganze Realität des jeweiligen Wirtschafts-prozesses.“ (dort S. 15)

Die „funktionellen Eigenschaften“ regionaler Versorgungswirtschaft

Blicken wir jetzt wieder zurück auf die zuvor genannte Studie „Von der bäuerlichen Landwirtschaft zur regionalen Versorgungswirtschaft“ von Hiß, Heistinger, Frieder. Als wertvolle „funktionelle Eigenschaften“ werden dort genannt:

  • generationenübergreifende Kontinuität und Beständigkeit
  • bedarfsorientierte Produktion für eine ökonomische und soziale Einheit
  • fließende Übergänge von Landwirtschaft zu Handwerk
  • ortsbezogenes Erfahrungswissen und praktische Fertigkeiten
  • existenzieller Umgang mit natürlichen Ressourcen
  • verfügbare Reproduktion bei Nutzpflanzen und Nutztieren  
  • systemimmanente Energieversorgung
  • gegenseitige Absicherung bei Schäden und Unfällen

Durch Hervorhebung habe ich hier wichtige Eigenschaften nochmals betont. Wenn wir bei der zukünftigen Entwicklung unserer Regionen diese wertvollen alten Merkmale neu zum Erblühen bringen, dann passiert viel Nachhaltiges. Wenn wir etwa zur bedarfsorientierten Produktion zurückkehren, statt weiterhin Überschüsse zu produzieren und einen Großteil davon wieder zu vernichten; oder etwa bei der eigenen Reproduktion bei Nutzpflanzen durch Samenzucht; oder beim Aufbau regionaler Entwicklung auf den praktischen Fertigkeiten der Menschen.

Als jemand, der sich jahrelang mit Entwicklungsprogrammen beschäftigt hat, sage ich: Diesen besonderen Ansatz neuer regionaler Entwicklung – nämlich die früheren bäuerlichen Merkmale und Eigenschaften der Ernährungssicherung zu erfassen, zu reflektieren und für die Zukunft aufzubereiten und neu einzusetzen – finde ich großartig und außerordentlich wichtig. Denn er greift auf frühere, gewachsene, lebende Prozesse zurück. Und Leben kann man nicht machen, sondern nur entdecken und fördern. In solchen Prozessen steht, wie Ivan Illich sagen würde, das Werkzeug wieder im Dienst des Menschen.

Franz Rohrmoser, Konfliktforscher, im Juli 2019

(Lektorat: Dr. phil. Andreas Wagner)

 

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