Landwirtschaft Der Agrarwissenschaftler Onno Poppinga erklärt, was es mit der schwarzen Landvolkfahne auf sich hat. Diese sorgt bei den aktuellen Bauerndemos für Aufsehen
Onno Poppinga, 77, ist auf einem Bauernhof in Ostfriesland aufgewachsen. Bis 2009 war er Professor für Regionale Agrarpolitik an der Universität Kassel-Witzenhausen und hat mitgeholfen, eine alte Rinderrassse auf dem Versuchgut der Universität wieder zu etablieren. 1975 erschien sein Buch Bauern und Politik, in dem er auch die Landvolkbewegung analysiert. Er ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und der IG BAU sowie Nebenerwerbslandwirt mit zehn Hektar Grünland. Poppinga setzt sich für faire Milchpreise ein.
der Freitag: Herr Poppinga, seit Wochen demonstrieren Landwirte in Berlin gegen die wirtschaftliche Not auf ihren Höfen. Einige haben schwarze Fahnen mit weißem Pflug und rotem Schwert dabei, das Symbol der gewalttätigen und nationalistischen Landvolk-Bewegung der 20er Jahre. Politiker und Verbände haben sich entsetzt distanziert. Sind die Landwirte nach rechts gerückt?
Onno Poppinga: Ich halte ich es für voreilig, alle Landwirte, die mit dieser Fahne in Berlin protestieren, als rechts einzustufen. Für Bauern in Ost- und Nordfriesland stand die Landvolkfahne auch für Widerstand und Proteste gegen die Zwangsversteigerung von Höfen vor knapp 100 Jahren. Wenn diese historische Fahne heute wieder hervorgeholt wird, wollen sie damit wohl sagen: Jetzt reicht es uns. Wenn alle unsere Demonstrationen noch nichts bewirkt haben, dann „packen wir noch eine Schippe drauf“! Trotzdem finde ich es falsch, dass die Landwirte die Landvolk-Fahne wieder hervorgeholt haben: Sie kann nur missverstanden werden.
Was macht die Landwirte in Berlin denn so wütend?
Sie protestieren, weil die politischen Parteien und die Agrarwirtschaft keine Lösungen für ihre Probleme bieten und weil die wirtschaftliche Lage bei vielen Betrieben äußerst angespannt ist. Die konventionellen Landwirte, die heute demonstrieren, haben all das vorbildlich gemacht, was die Politik, die Wissenschaft, das Beratungssystem, die Medien in der Vergangenheit von ihnen verlangt haben. Sie haben ihre Höfe vergrößert, die Leistungen gesteigert, die Tierzahlen erhöht und dabei auch hingenommen, dass es bei so machen Betrieben zu einer Überdüngung der Felder und zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Tiere gekommen ist. Vorangetrieben wurde das alles auch durch staatliche Maßnahmen wie die Flurbereinigung und die finanzielle Förderung von Investitionen. Über Jahrzehnte hatten diese Landwirte den Eindruck, dass unsere Gesellschaft genau das will: eine hochproduktive Landwirtschaft, die günstige Lebensmittel erzeugt, mit denen man auf dem Weltmarkt reüssieren kann. Wer als Landwirt das in der Vergangenheit nicht mitmachen wollte, mußte als Einzelkämpfer seinen Weg gehen, und das war schwer genug.
Jetzt realisieren die Landwirte, dass keiner mehr all das will, worauf sie so stolz waren. Die Politik beschreibt inzwischen zwar manche der Probleme, die durch die intensive exportorientierte Landwirtschaft entstanden sind, statt aber real etwas zu ändern, richtet sie lieber nur neue Kommissionen ein. Vor allem drückt sie sich vor den notwendigen Auseinandersetzungen mit der Agrarwirtschaft. Die Politiker, aber auch die Agrarwirtschaft sollten diese Proteste als eine Art Hilferuf sehen, dass die Landwirtschaft neue Rahmenbedingungen benötigt und neue Ziele für ihre Arbeit.
Wie ist es denn zu dieser wirtschaftlichen Notlage bei vielen Betrieben gekommen? Viele Studien, auch die, an denen Sie mitgewirkt haben, zeigen ja, dass die Erzeugerpreise etwa bei Milchviehbetrieben weit von einer Kostendeckung entfernt sind.
Die Bauern erleben seit langem, dass es für sie keine funktionierende Marktwirtschaft gibt. Die Milchbauern beispielsweise müssen ihre Milch abliefern, ohne daß sie wissen, was sie dafür erlösen. Sie können nur hoffen, dass das Milchgeld nach drei oder vier Wochen einigermaßen stimmt, aber sie haben keinerlei Einfluss auf die Preise. Eine Mitarbeiterin des Bundeskartellamtes, die vor gut zehn Jahren diese Verhältnisse untersucht hat, sagte denn auch, solche Stukturen hätte sie noch in keiner anderen Branche je beobachtet. Seit Jahren arbeitet ein Großteil der Milchbauern weit unter Mindestlohn. Das haben sie lange durch Überarbeit aufgefangen, die karge landwirtschaftliche Rente der Eltern, das Einkommen der Ehefrau, alles wurde mobilisiert. Doch vergangenes Jahr ist das Fass zum Überlaufen gekommen. Seit eineinviertel Jahren gehen die Landwirtinnen und Landwirte auf die Straße und demonstrieren – doch alles, was sie bisher gemacht haben, hat die Politiker und die Agrarwirtschaft offensichtlich noch nicht sonderlich beeindruckt. Deshalb entwickeln sie neue Protestformen – mit der Blockade von Zentrallagern des Lebensmitteleinzelhandels scheinen sie nun einen neuralgischen Punkt getroffen zu haben – und ja, sie erschrecken die Politiker mit der schwarzen Fahne.
Was raten Sie den protestierenden Bauern?
Sie müssen nicht nur Forderungen an andere stellen, sondern sich auch fragen, warum sie bei dieser Art von Landwirtschaft mitgemacht haben, die sie jetzt selbst in den Ruin zu treiben droht. Es ist ein Scherz, aber man könnte sagen, die Bauern haben durch die Agrarpolitik, durch die sehr qualifizierte Ausbildung, die sie durchlaufen haben, eine „Änderung in ihren Genen“ erfahren. Das Streben nach höchster Produktionsleistung ist den Bauern extrem stark eingetrichtert worden, es galt als Voraussetzung dafür, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Also, du musst die 10.000-Liter-Kuh im Stall haben, wenn du überhaupt den Mund aufmachen willst. Oder Sauen, die mindestens dreißig Ferkel im Jahr zur Welt bringen, oder mindestens 90 Doppelzentner Weizen vom Hektar Ertrag vorweisen.
Unsere Untersuchungen von Milchviehbetrieben haben aber gezeigt, dass Höfe, die sich dem extremen Leistungsgedanken verweigern, die aus eigener Kraft ein eigenes System der Milcherzeugung entwickelt haben, oft wirtschaftlich deutlich besser dastehen, weil sie zwar weniger produzieren, aber auch viel weniger Kosten haben. Einer von denen hat mir einmal gesagt: „Ich weiß wohl, ich bin der Bauer rückwärts!“ So wirkt die immer noch vorhandene Denunzierung von Bauern, die es sich der hochintensiven Produktion verweigern.
Genau diese Leistungsorientierung, die zu Tierschutzproblemen, Überproduktion und Preisverfall beigetragen hat, müssen die Landwirte reflektieren. Das stellt ihr bisheriges berufliches Weltbild in Frage, aber darum kommen sie nicht herum.
Was ist die Rolle der Gesellschaft dabei? Was müssen wir als Bürgerinnen und Konsumentinnen tun?
Für unsere Gesellschaft werden die notwendigen Änderungen nicht weniger schmerzhaft sein als für die Bauern selber. Vielleicht hilft ein Vergleich mit dem Ende der Atomkraftindustrie hier weiter: Die Gesellschaft hat toleriert, dass mit ihrem Steuergeld Atomkraftwerke gebaut wurden; die Atomwissenschaft erging sich in Propaganda für die Sicherheit der Atomindustrie; die Proteste der Anti-AKW-Bewegung wurden mit Zäunen und Polizeiknüppeln niedergehalten – bis es zu Tschernobyl und Fukoshima kam. Der Umstieg auf eine neue Energieerzeugung erforderte Eingriffe in die Wirtschaft, die bis dahin undenkbar schienen: garantierte Erzeugerpreise, Mengenbegrenzung, unterschiedliche Preise in Abhängigkeit von den Kosten der Entstehung, regionale Erzeugung von Energie. Einiges aus dieser Werkzeugkiste könnte auch geeignet sein für die erforderliche Agrarwende.
Tanja Busse ist Autorin und Moderatorin. 2019 erschien ihr Buch Das Sterben der anderen. Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können.